Steffen Münzberg | Susanne Thiele | Vladimir Kochergin

Sex macht Spass, aber viel Mühe

Orell Füssli Verlag

Inhaltsverzeichnis


Vorspiel Was Ihnen bevorsteht
Erregungsphase Wozu das Ganze
Sex und Tod Wozu Sexualität?
Oder doch besser Jungfrauengeburt? Die Vor und Nachteile der Sexualität
Unser erster Sex Wann? Mit wem? War‘s schön?
Über Erbgutes und Geschlechtes Die Entstehung der Geschlechter
Heute schon gezwittert? Die Trennung von Mann und Frau
Tod und Alter Was uns humpeln und schrumpeln lässt
Plateauphase Sexualauswahl
Es ist Wahltag Wer darf sich mit mir kreuzen?
Wählerisch? Haut, Zähne, Haare, Gesicht, Augen, Hüften
Orpheus in der Urzeitwelt Was ist Musik und warum?
Höhepunkt Baustelle Geschlecht
Junge oder Mädchen? Von den Mühen der Embryos, Mann oder Frau zu werden.
Intersexualität Frau, Mann oder ganz anders?
Wie kommt das Geschlecht ins Gehirn Wer bestimmt, wer wir sind und wen wir lieben?
Entspannungsphase Menschen und andere Affen
Unsere haarigen Verwandten Wie verkehrt man in unserer evolutionären Nachbarschaft?
Clevere Savannengänger Sex mit schlauen Nebenwirkungen
Ich bn dir treu. Aber nicht nur dir. Unsere ungewöhnliche Monogamie in der Gruppe
Wer ist perfekt? Und wenn ja, wie viele? Doppel und Dreifachstrategien
Und Action! Mehr Spaß privat mit Primat


Vorspiel
Was Ihnen bevorsteht


Dieses Buch möchte ein Verständnis vermitteln für die sexuellen Kräfte, die offen und verdeckt auf uns einwirken – gewollt und genossen oder auch unerwünscht, dann aber meist umso beharrlicher.
Welche Triebfedern bestimmen unser sexuelles Denken und Verhalten? Woher kommen unsere Vorlieben, unsere Kriterien bei der Partnerwahl und -beibehaltung? Wie sind wir die sexuellen, liebenden und sozialen Wesen geworden, die wir sind? All diese Fragen und noch einige mehr beantworten wir in diesem Buch.
Wir werden Ihnen nur wenige Ratschläge zur erfolgreichen Partnersuche oder zur Lösung von Beziehungsproblemen geben, dafür gibt genügend andere Bücher. Vielleicht hilft Ihnen aber das Wissen über die sexuelle Vergangenheit der Menschheit, sich selbst, den einen anderen und auch die anderen anderen besser zu verstehen.
Viele Menschen stellen im Laufe ihres Lebens fest, dass Wunsch und Wirklichkeit in Sachen Sexualität oftmals nicht beieinander liegen. Es
ist nicht immer einfach damit umzugehen. Selbstzweifel und Beschuldigungen des Partners sind oft die Folge. Wer allerdings weiß, woher die Unterschiede zwischen Wunsch und Wirklichkeit rühren, kommt mit diesen Spannungen besser zurecht. Es ist leichter, mit Wünschen und Begierden umzugehen, wenn Mann und Frau wissen, warum und wozu sie diese Wünsche, diese Begierden haben und wie diese als Teil der Persönlichkeit auf sie selbst und auf andere wirken.
In unserem Buch »Sex macht Spaß« wollen wir mit Ihnen die Evolutionsgeschichte der Sexualität durchwandern. Im ersten Teil erfahren Sie, dass uns die Bakterien den Sex eingebrockt haben und wie sie das angestellt haben. Sie tauchen außerdem mit uns ins Urmeer hinab und beobachten, wie es Urtiere miteinander tun.
Warum gibt es zwei Geschlechter? Warum vermehren sich Blattläuse jungfräulich, Elefanten aber nicht? Warum sind die meisten von uns keine Hermaphroditen, also keine Zwitter? Diese Fragen beantworten wir im ersten Teil des Buches. Und weil die Sexualität eng mit dem Sterben verbunden ist, widmen wir auch Tod und Alter ein eigenes Kapitel.
Während im ersten Teil des Buches nur längst vergangene Ein- und Vielzeller agieren, nehmen wir im zweiten Teil auch menschliche Eigenheiten in Augenschein. Dort geht es dann um das »Wer mit wem?«. Sie begutachten die Sexualauswahl – also die Partnerwahl – bei der zwar niemand sterben muss, die Kriterien aber trotzdem recht streng sind. Das treibt im Laufe der Evolution dann interessante Blüten und Schwänze. Unsere Vorlieben bei der Partnerwahl haben uns nicht nur breite Schultern und breite Hüften eingebracht, sondern auch romantisch blickende Augen und Intelligenz. Unsere Vorfahren haben durch ihre Angewohnheit, vor dem Sex zu singen, zu malen und witzige Konversation zu betreiben, Musik, Kunst und Sprache wachsen lassen.
Vieles von dem, was wir als Kultur bezeichnen, hat eine erotisch-evolutionäre Vorgeschichte.
Die Menschheit hat sich also zur Kultur gevögelt. Warum aber sprechen wir vom »Vögeln« und nicht vom »Lurchen« oder »Reptilieren«?
Im dritten Teil des Buches betrachten wir, wie sich Embryos zu Frauen, Intersexuellen und Männern entwickeln und wie das Geschlecht ins Gehirn kommt.
Im Morgengrauen des vierten Teiles schleichen wir dann in den Urwald und beobachten unsere haarigen Verwandten bei der Paarung.
Es gibt den Ausspruch, unser wichtigstes Geschlechtsteil befände sich zwischen den Ohren. Dieses Geschlechtsteil, unser Gehirn, verliebt sich gern. Wozu eigentlich? Wo kommen unsere Liebesfähigkeit, unsere Liebeslust her?
Die Evolution findet es nicht nur amüsant, Lebewesen miteinander kopulieren zu lassen, nein, sie neckt auch einige Arten mit dem Verlangen, sich ausgerechnet in einen Geschlechtspartner verlieben zu müssen.
Wie haben sich die Liebe und der Sex beim Menschen gefunden und verbunden? Oder eben auch nicht? Ginge es denn nicht auch ohne romantische Gefühlswallungen? Unsere Verwandten – die Bonobos, Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans – verlieben sich nicht. Warum aber wir? Wie hat die Partnerliebe uns und die Gesellschaft geformt? Und wie viel Monogamie ist das emotionale und evolutionäre Optimum? Zum Tages- und Buchausklang besuchen uns noch Bonobo und Co. im Schlafzimmer und geben dem Sexualleben ein bisschen zusätzlichen Schwung.
Übrigens: Wenn sich im Text jemand zu Wort meldet und behauptet »ich« zu sein, dann ist das Steffen Münzberg. Er trägt Schuld und Verantwortung für den Großteil des Textes. Der Teil »Baustelle Geschlecht« stammt von Susanne Thiele. Vladimir Kochergin kommt leider nicht selbst zu Wort, er recherchierte und lektorierte eifrig.


Teil I
Erregungsphase: Wozu das Ganze?


Sex und Tod
Wozu Sexualität?


Warum betreiben wir Sex? Weil es Spaß macht. Warum macht Sex Spaß? Damit wir ihn machen. Wenn Sex keinen Spaß machen würde, würden wir uns nicht paaren, nicht vermehren und schon bald wären wir ausgestorben.
Warum aber brauchen wir unbedingt Sex für die Vermehrung? Es ginge doch auch ohne Sex. Bakterien vermehren sich ganz keusch durch Teilung. Viele Pflanzen lassen einfach einen Ableger wachsen, der dann eine neue Pflanze wird. Auch einige Tiere vermehren sich enthaltsam. Ein kleines, mit den Quallen verwandtes Hohltier namens Hydra – bekannt auch als Wasserpolyp – kann eine neue Hydra seitlich aus sich herauswachsen lassen. Oder sie teilt sich quer oder längs, um dann zwei Hydras zu sein. Blattläuse gebären junge Blattläuse – im Sommer legen Blattläuse keine Eier, sondern sind lebend gebärend – ohne dass die Blattlausmutter irgendetwas wie Sex gehabt hätte. Es geht also auch ohne. Wozu dann der ganze Paarungsaufwand? Warum teilen wir Menschen uns nicht einfach wie die Hydra? Morgens aufwachen und neben sich liegen? Das wäre doch was.


Bakterienfutter


Um zu verstehen, weshalb uns Menschen die Sexualität mitgegeben wurde, müssen wir die Perspektive wechseln. Statt mit uns Menschen
müssen wir uns mit Viren und Bakterien beschäftigen. Es geht nicht um die Bakterien und Viren, die beim Sex von Mensch zu Mensch springen; es geht hier ganz allgemein um die knisternde Beziehung zwischen den Viren bzw. Bakterien und uns Vielzellern. Die Frage also lautet: Was haben die Erreger von Grippe und Durchfall mit unserem Sexualleben zu tun?
Betrachten Sie sich einmal aus dem Blickwinkel einer hungrigen Bakterie. Ein Mensch ist für eine Bakterie ein riesiger Fleischhaufen, der für lange Zeit Nahrung bieten könnte. Und hungrige Bakterien gibt es viele. Von dem Gewicht, das Ihnen Ihre Waage anzeigt, entfallen drei Kilogramm auf die in und an Ihnen lebenden Bakterien. Auch wenn Sie im Meer baden, sind in jedem Kubikzentimeter Meerwasser, also nur einen Fingerhut voll, zehn Millionen Viren enthalten, die sich gern in Ihnen vermehren würden. Damit uns die vielen Bakterien und Viren nicht auffressen, brauchen wir eine Abwehrstrategie. Aber welche?
Bakterien brechen unsere Zellen auf, um sie zu verspeisen. Viren dringen in unsere Zellen ein, um sie als Viren-Brutstätte zu benutzen. Das Aufbrechen einer Zelle und das Eindringen in eine Zelle sind komplizierte biochemische Vorgänge: Die Bakterien und Viren docken an bestimmten Strukturen unserer Zelloberfläche an und benutzen dann chemische »Schlüssel«, um die Zellen zu öffnen. Zu unserem Glück verfügt nicht jede Bakterie und nicht jeder Virus über das Talent, unsere Zellen zu öffnen. Wenn dem so wäre, würden wir nicht aufrecht über die Erde gehen, sondern aufgelöst von den Viren und Bakterien als Zellflüssigkeitspfütze in der Erde versickern.


Die Schlüsselfrage


Zellen haben auf ihren Zellmembran-Oberflächen raffinierte molekulare Strukturen und Vorrichtungen. Es gibt komplexe Zuckermoleküle für den mechanischen und chemischen Schutz. Auf der Zelloberfläche befinden sich komplizierte Moleküle, die die chemischen Signale von anderen Zellen verstehen können und diese Signale in das Zellinnere weiterleiten. Und es gibt Molekülpumpen, die bestimmte Stoffe in die Zelle hinein- und andere Stoffe hinausbefördern. Die Oberfläche einer Zelle ist keine glatte Hülle, sondern eine Mischung aus Molekülgebirge, Antennenwald und Chemiefabrik.
Um eine Zelle zu öffnen, brauchen die Bakterien und Viren »Werkzeuge« oder »Schlüssel«, die biochemisch ganz genau zu einer Stelle auf der Zelloberfläche passen. Mit solch einem passenden Schlüssel können die Viren und Bakterien bestimmte biochemische Reaktionen in den Zellwänden auslösen, die die Zellwände öffnen. Diese »Sesam öffne dich«-Reaktionen, die sonst dazu dienen, bestimmte nützliche Stoffe in die Zelle zu schleusen, gewähren nun den Viren und Bakterien Zutritt in das Zellinnere. Nur wer den richtigen Schlüssel zu einer Zelle hat, bekommt Futter und kann sich vermehren. Für die Bakterien sind unsere Zellen gut gefüllte Vorratskammern, Kühlschränke und Weinkeller gleichzeitig. Und die Viren sehen in unseren Zellen kostenfreie Entbindungsstationen und Kindergärten. Das klingt harmlos, ist es aber nicht. Unsere Zellen werden von eingeschleusten Virengenen gezwungen, in ihrem Inneren gewaltige Mengen von Jung-Viren zusammenzubauen. Die so in einer Zelle herangewachsenen Viren wollen in die Welt hinaus und brechen dazu die Zelle von innen auf. Die aus den Zell-Trümmern ausgeschwemmten Viren befallen sofort die nächsten Zellen, denen dann das Gleiche bevorsteht.
Wie aber kommen die Viren und Bakterien an die richtigen Zell-Schlüssel heran? Und wie können wir das verhindern?
Sollte auf Ihrem Körper einmal eine neue Bakterie landen, dann besitzt diese Bakterie wahrscheinlich keinen passenden Schlüssel zu Ihren Zellen. Aber die Bakterien haben die Zeit auf ihrer Seite. Bakterien können sich innerhalb von 20 Minuten teilen, immer und immer wieder und dabei mutieren. Mit neuen Mutationen können immer neue chemische Schlüssel entstehen. Irgendwann einmal wird irgendeine Bakterie einen Schlüssel haben, der genau zu Ihren Zellen passt. Und dann werden Sie von den Bakterien an- oder vielleicht auch aufgefressen.


Happy End


Es gibt aber eine sichere Methode, das Gefressenwerden zu verhindern. Eine todsichere Methode. Sterben Sie! Sterben Sie, bevor Sie gefressen und dadurch krank werden!
Aber geht es nicht um das Überleben? Wie soll Sterben beim Überleben helfen? Ja, es geht um das Überleben. Aber leider nicht um Ihr wertes Überleben, sondern um das Ihrer Gene, um das Überleben Ihrer Erbinformationen. Um also Ihre Gene vor den Bakterien und Viren, den Parasiten, zu retten, sollten Sie schnell Kinder bekommen, die Kinder schnell großziehen und dann schnell sterben. So lassen Sie den Parasiten nicht genug Zeit, Ihren Zellwand-Code zu entschlüsseln. Bevor sich die Bakterien und Viren bei Ihnen gemütlich einrichten können, sind Sie schon gestorben. Und weil Sie noch keine Parasiten in Ihren Zellen haben, sterben Sie bei bester Gesundheit. Ein zeitlich gut geplanter Tod ist für die Gene eine wirksame Überlebenshilfe.
Dass Sterben geplant sein kann, sehen Sie an den Eintagsfliegen. Nachdem die Eintagsfliegen-Larven viele Monate im Wasser verbracht haben, steigen alle Larven gleichzeitig aus dem Wasser, häuten sich
und leben als flugfähige geschlechtsreife Insekten nur noch einige Tage. Sie sterben aber nicht, weil ihnen kein längeres Leben möglich wäre oder weil sie gefressen werden. Nein, sie sterben, weil sie genetisch so programmiert sind. Zu einem bestimmten Termin, gleich nach Paarung und Eiablage, sterben sie pflichtbewusst zum Zwecke der Arterhaltung. Die Eintagsfliegen überlisten so die Räuber und Parasiten. Kein Vogel, keine Libelle und auch keine Schlupfwespe oder Milbe kann sich an die nur wenige Tage im Jahr herumfliegenden Eintagsfliegen anpassen. Keine Art kann zum spezialisierten »Eintagsfliegenjäger« werden, ohne dabei zu verhungern und auszusterben.
Auch unser Tod ist geplant. Wir sterben zwar nicht auf den Tag genau geplant wie die Eintagsfliegen, aber wir sterben. Was lässt uns sterben? Wenn uns nicht die Parasiten hingerafft haben, dann sterben wir an Krebs oder am Alter. Altern bedeutet, dass die Zellen immer schlechter funktionieren. Die Zellen verschleißen, weil das zellinnere Reparatur- und Wartungsprogramm immer schlechter abläuft. Stark verschlissene Zellen werden auch nicht mehr erneuert. Sind das aber nicht normale Lebenserscheinungen? Wieso sollen das Altern und der dann folgende Tod geplant sein? Sind Altern und Sterben denn nicht unvermeidlich?
Altern ist vermeidbar. Altern muss nicht sein. Ewige Jugend ist machbar – aber nur dort, wo sie einen evolutionären Vorteil hat. Dazu mehr im siebten Kapitel, in dem wir auch die Telomere betrachten, die uns vor Krebs schützen sollen, uns aber auch pünktlich sterben lassen. Nun zurück zu den Parasiten und ihrer Lieblingsspeise: uns.


Sei ANdERS!


Bei Wesen wie Mensch und Elefant, bei denen die Nachwuchserzeugung durch lange Schwangerschaft und Brutpflege ein paar Tage länger dauert als bei den Eintagsfliegen, ist das »schnelle Sterben« nicht ganz so einfach zu bewerkstelligen. Langlebige Lebewesen haben es schwerer, den Parasiten zu entkommen als die Schnellsterber. Aber außer dem eiligen Dahinscheiden gibt es noch eine andere Methode, mit heiler, einigermaßen parasitenfreier Haut davonzukommen.
Unsere Kinder werden in eine Welt voller Viren und Bakterien hineingeboren. Die Parasiten, die vielleicht schon 20 oder 30 Jahre auf oder in der Mutter leben und dabei den passenden Zelloberflächen-Schlüssel schon gefunden haben, stürzen sich nun auf den Nachwuchs. Wenn die Kinder der Einfachheit halber durch Jungfrauengeburt zur Welt gekommen sein sollten, haben sie die gleichen Gene wie die Mutter und damit auch die gleichen Zelloberflächen wie sie. Die Kinder sind dann ein gefundenes Fressen für die Parasiten, die ja schon an den Zellen der Mutter trainiert haben. Die Kinder werden nun von Bakterien und Viren besiedelt, die den Zelloberflächentyp der Kinder bereits kennen. Die Parasiten können deren Zellen ohne Mühe aufbrechen. Wenn also Mutter und Kind genetisch identisch sind, dann hilft das schnelle Sterben nicht dem Überleben der Gene. Die Mutter ist zwar tot, doch ihre identischen Kopien laden zum Festessen ein. Sich klonen lohnt also nicht. Was aber dann? Gibt es eine Möglichkeit, parasitensicherere Kinder auf die Welt zu bringen?
Viele Vielzeller benutzen eine sehr elegante Methode, die Bakterien und Viren auszutricksen. Diese Vielzeller, zu denen auch wir gehören, bringen ihre Nachkommen nicht genetisch identisch, sondern genetisch abgeändert auf die Welt. Durch die genetischen Änderungen unterscheiden sich die Zelloberflächen der Kinder von denen der Mutter. Die Parasiten stehen nun vor verschlossener Tür, der Schlüssel passt nicht mehr. Die Viren und Bakterien müssen wieder von neuem
nach einem passenden Zelloberflächen-Schlüssel suchen. So hat der genetisch geänderte Nachwuchs eine Chance, alt genug zu werden, um selbst Kinder zu bekommen, bevor die Parasiten auch seine Zellen öffnen können. Wie aber können Vielzeller ihre Gene geplant ändern?


Mischmasch


Die Methode, mit der die Vielzeller die genetische Abänderung ihrer Kinder bewerkstelligen, ist – anders als der geplante Tod – recht erbaulich. Ihr Name lautet: Sex. Bei der sexuellen Vermehrung kommt es zur Gen-Durchmischung.
Sexuell erzeugte Kinder tragen einen anderen Gen-Mix in sich als ihre Eltern. Wie läuft das Gen-Mischen ab? Wird gerührt oder geschüttelt?
Die Gen-Durchmischung beginnt lange vor dem Sex. Schon bei der Erzeugung von Ei- und Spermazellen werden Gene durcheinandergewürfelt. Der menschliche Erbgut-Text braucht mindestens 23 verschiedene Chromosomen als Aktenordner. In normalen Körperzellen gibt es diese Aktenordner – wie in jeder guten Behörde – in doppelter Ausführung. Normale Körperzellen haben einen doppelten Chromosomensatz mit insgesamt 46 Chromosomen. 23 davon stammen von der Mama und 23 vom Papa.
Wenn sich zum Beispiel eine Leberzelle in aller Ruhe asexuell teilen will, dann werden die 46 Chromosomen in ihr kopiert und jede der beiden neuen Leberzellen bekommt 46 Chromosomen. Wenn es nun daran geht, in Vorbereitung auf späteren Sex Ei- und Spermazellen zu erzeugen, läuft es etwas anders ab. Die 46 Chromosomen werden nicht kopiert, sondern einfach nur verteilt. Einer links, einer rechts. Fertige Ei- und Spermazellen haben also nur einen einfachen
Chromosomensatz. Das stört aber nicht, denn nach erfolgreichem Sex – der Verschmelzung zweier Zellen – wird ja alles wieder doppelt sein.
Die Aufteilung der 46 Chromosomen in zweimal 23 Chromosomen geschieht ganz zufällig. Niemand fragt, ob das Chromosom, das gerade in eine neue Zelle verfrachtet wird, früher mal von Vater oder von Mutter gekommen ist. In jeder Eizelle bzw. Spermazelle gibt es also eine andere, neue Chromosomenmischung.
Dann vereinigen sich beim Sex die 23 zusammengewürfelten Chromosomen der einen mit den 23 Chromosomen der andern verschmelzungswilligen Zelle. Alle 46 Chromosomen stammen von den Eltern und Großeltern. Aber keiner der Eltern oder Großeltern hat genau diese Kombination aus diesen 46 Chromosomen.
Das ist aber noch nicht alles, was unsere innere Genmischmaschine leisten kann. Bei der Ausbildung von Geschlechtszellen in Hoden und Eierstock werden sogar Chromosomenabschnitte zwischen den Chromosomen getauscht. Kurz vor der Zellteilung – wenn sich die Chromosomen wohlgeordnet für die Aufteilung auf die beiden neuen Geschlechtszellen anstellen – werden die Chromosomen zerschnitten. Dann werden Chromosomenstücke zwischen den parallelen Chromosomen ausgetauscht und in das jeweils andere Chromosom eingebaut. Das ist, als ob man bei zwei Anzügen je einen Ärmel und ein Hosenbein abtrennt und dann an den anderen Anzug wieder annäht. Dieses extrawilde Genmischen heißt »Crossing-over« oder »chromosomale Rekombination«
Durch das Durchmischen von Chromosomen und Chromosomenabschnitten hat nun jedes Kind eine andere Genmischung und damit eine andere Zelloberfläche als seine Eltern. Jedes Kind ist damit eine ganz neue Herausforderung für die Parasiten. So werden mit jeder neuen Generation die Evolutions-Spielkarten neu gemischt und ausgeteilt für eine neue Runde »Leben und Tod«. Der
evolutionäre Zweck einer sexuellen Vereinigung ist also die Durchmischung der Gene. Weil unsere Chromosomen gesellig sind, lassen sie uns Sex veranstalten.
Bei der sexuellen Gen-Vermischung zwecks Parasitenabwehr kommt es darauf an, anders zu sein. Anders als die anderen. Es kommt darauf an, immer neue Schlösser zu besitzen, für die die Bakterien und Viren noch keine Schlüssel haben.
Zur Verdeutlichung: Bei einer Vermehrung ohne Sexualität passiert immer wieder Folgendes: Wenn bestimmte Gene einen guten Parasitenschutz bewirken, dann breiten sich diese Gene schnell innerhalb der Population aus. Es gibt bald viele gleiche Lebewesen mit gleichen Genen und gleichen Zelloberflächen. Und es gibt dann auch viele Übungsflächen für die Parasiten. Es dauert nicht lange, bis ein Parasit einen passenden Schlüssel zu diesen vielen potentiellen Wirten findet. Dann werden aus den eben noch so gesunden Vielzellern wieder Brut- und Futterstellen für die Parasiten. Die eben noch so erfolgreichen Gene sterben so mit ihren kranken, parasitenzerfressenen Trägern wieder aus.
Vielzeller wie wir, die sich nur ganz gemächlich vermehren, haben keine Chance, sich auf die übliche Weise durch Mutation und Auslese an ganz bestimmte Bakterien oder Viren anzupassen. Die mutationsfreudigen Viren und Bakterien verändern sich viel schneller als wir. Wir können nur ganz generell versuchen, den Parasiten das Parasitieren so schwer wie möglich zu machen.
Dafür nutzen wir also den Misch-Sex, Sex zum Mischen von Chromosomen und Genen. Wie gesagt: Genkombinationen, die heute gut sind, werden es morgen mit Sicherheit nicht mehr sein. Umgekehrt kann aber manchmal das, was vorgestern schlecht war, heute wieder
gut sein. Zelloberflächen-Schlösser, die früher für Parasitenangriffe anfällig waren, können viele Generationen später wieder für einige Zeit brauchbar sein. Der Grund ist, dass sich die Parasiten in der Zwischenzeit auf andere Schlösser konzentriert und dabei verlernt haben, diese fast ausgestorbenen Schlösser zu öffnen. Wie Einbrecher, die ein uraltes Kellerschloss nicht knacken können, weil ihnen die Konstruktion fremd ist.
Bei Inzucht funktioniert das Schlösser-Wechseln übrigens nicht. Es kommt zu keinen genetischen Veränderungen beim Genmischen, weil beide Eltern nahezu das gleiche Erbgut mitgeben. Inzucht bietet keine Vorteile, deshalb verhindern die meisten Pflanzen die Selbstbestäubung und viele Tiere meiden beim Sex ihre nahe Verwandtschaft. Das Motto »Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah«, gilt beim Sex zwecks Gen-Durchmischung definitiv nicht.
Tiere haben als zusätzliche Parasitenabwehr Immunsysteme mit Antikörpern und Killerzellen. Wirbeltiere, und damit auch wir Menschen, verfügen über hochkomplexe lernfähige Immunsysteme, andere Tiere haben schlichtere Immunsysteme ohne Lernfunktion. So wie die Bakterien und Viren die Zellen des Vielzellers aufbrechen wollen, so versuchen die Kampfzellen des Immunsystems, die Parasiten aufzubrechen. Um erfolgreich zu sein, braucht ein Immunsystem passende Schlüssel für die Oberflächen der Parasiten. Die Immunsysteme haben viele Schlüssel in ihrem Vorrat. Doch nur durch eine immer wieder neue sexuelle Durchmischung des Immunsystem-Erbguts sind die genetischen Schlüssel-Bibliotheken groß genug, um immer neuen Angreifern widerstehen zu können. Sex wirkt also wie eine Impfung. Aber nicht bei denen, die den Sex betreiben, sondern bei ihren Kindern.


Alice im Evolunderland


Nun wissen wir, wem wir den Sex und auch den sicheren Tod zu verdanken haben – den Bakterien und Viren. Die Parasiten halten uns ständig auf Trab. Nachdem es Alice ins Wunderland verschlagen hatte, war sie ein Buch später »Alice hinter den Spiegeln«. Hinter den Spiegeln traf Alice die Rote Königin, die bei einem Waldlauf ohne Vorankommen sagte: »Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.« So ist es auch beim Wettlauf mit den sich ständig wandelnden Parasiten. Trotz allem Rennen schafft man es nie, die Parasiten abzuhängen, man kann höchstens eine Nasenlänge voraus sein, um gerade noch zu überleben. Nur wer ständig rennt, sich ständig verändert, überlebt. Darum heißt die Theorie, nach der auch der Sex eine Reaktion auf sich ständig verändernde Parasiten ist, die »Rote Königin Theorie«. Sie wurde 1973 von Leigh Van Valen aufgestellt und beschreibt den Wettlauf und das Wettrüsten verschiedener Arten gegeneinander als wichtige Triebkraft evolutionärer Entwicklungen. Diese Theorie sieht im Sex eine Waffe der Arten im Kampf gegeneinander. Die »Rote Königin Theorie« ist heute ein grundlegender Baustein der Evolutionsbiologie.
Bevor wir betrachten, wie die Geschlechter entstanden sind und wie Vielzeller durch richtig angestellten Sex kräftigere, gesündere und schönere Kinder bekommen können, müssen wir die Fragen beantworten: »Warum vermehren sich nicht alle Vielzeller sexuell?« Es wird wohl auch einige gute Gründe dafür geben, auf Sex zu verzichten.